Nachfolgend ein Beitrag vom 6.6.2016 von Fritze, jurisPR-InsR 10/2016 Anm. 4

Orientierungssatz zur Anmerkung

Die Sanierungsklausel nach § 8 Abs. 1a KStG verstößt als verbotene staatliche Beihilfe gegen Unionsrecht. Es ist keine Ausnahme vom Verlustvortragsverbot bei Eigentümerwechsel zum Zwecke der Unternehmenssanierung erlaubt.

A. Problemstellung

Schuldenreduktion und Veränderungen der Eigentümerstruktur sind essentielle Maßnahmen bei einer Unternehmenssanierung. Die kriselnde Gesellschaft leidet meist unter Ertrags- und Liquiditätsschwäche, die Gesellschafter sind nicht mehr Willens und in der Lage, Kapital im benötigten Umfang einzuschießen. Ein zu hoher Schuldenstand verhindert weitere Investitionen. Entgegenwirkende Sanierungsmaßnahmen stoßen an steuerliche Erschwernisse: Schuldenerlasse führen zu Buchgewinnen, der Neueintritt von Gesellschaftern schneidet Verlustvorträge ab. Die ohnehin schon hilfsbedürftige Gesellschaft bekommt weitere Lasten aufgebürdet, die Sanierungsmaßnahmen drohen die Lage zu verschlimmern statt sie zu verbessern. Grundsätzlich können Verlustvorträge auch von Körperschaften steuermindernd geltend gemacht werden, § 10d EStG, § 8c KStG. Allerdings kann ihr Ansatz bei sog. schädlichem Anteilserwerb anteilig oder ganz eingeschränkt werden (Ausnahmetatbestand gem. § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG bei Austausch über 25% bzw. Satz 2 für Austausch über 50%). Mit der sog. Sanierungsklausel § 8c Abs. 1a KStG wurde eine Rück-Ausnahme geschaffen, die die Verwendung von bestehenden Verlustvorträgen in Sanierungssituationen auch bei sonst die Anwendbarkeit ausschließenden Eigentümerwechseln erlauben sollte, sofern der Austausch „zum Zwecke der Sanierung“ erfolgte. Die Europäische Kommission ist gegen diese Sonderregelung vorgegangen und wurde nunmehr vom Gericht der Europäischen Union bestätigt. Müssen die Steuervergünstigungen zurückgezahlt werden? Droht das strenge Beihilfeverbot Sanierungen zu erschweren? Was muss in steuerlicher Hinsicht bei Sanierungen unbedingt beachtet werden?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Am 26.01.2011 erließ die Europäische Kommission einen Beschluss, mit dem die Sanierungsklausel als verbotene staatliche Beihilfe qualifiziert wurde. Die Klausel sehe Ausnahmen von der allgemeinen Regel des Verfalls von Verlustvorträgen zulasten der deutschen Steuereinnahmen vor und schaffe dadurch selektiv Vorteile für Unternehmen in Schwierigkeiten, die nicht durch den allgemeinen Aufbau des Steuersytems, sondern durch die Absicht, von der Finanz- und Wirtschaftskrise geschaffene Probleme zu bewältigen, begründet sei. Da dies nicht mit den bestehenden hierzu geschaffenen Leitlinien übereinstimme und mithin nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar sei, sei die Klausel aufzuheben und müssten gewährte Steuererleichterungen rückgefordert werden.
Dagegen klagten zwei deutsche Privatunternehmen mit der Bundesrepublik als Streithelferin. Im hier besprochenen Fall waren 2009 die Anteile an einer insolvenzbedrohten Bauholding von der Muttergesellschaft zwecks Verschmelzung und Sanierung erworben worden. Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1a KStG lagen vor. Nachdem die Kommission das förmliche Prüfverfahren eingeleitet hatte, hatte das Bundesfinanzministerium mit einem Nichtanwendungserlass die Finanzämter angewiesen, Verlustvorträge auch bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht zuzulassen. 2011 erhielt die Klägerin entsprechende Vorauszahlungsbescheide, die keine Verlustverrechnung vorsahen. Eine zuvor erteilte verbindliche Auskunft wurde aufgehoben. Dagegen legte die Klägerin zunächst Einspruch ein und erhob anschließend Klage am Finanzgericht, das noch in 2011 die Aussetzung der Vollziehung der Bescheide anordnete.
Die Klage wurden vom EuG als zulässig, aber unbegründet abgewiesen. Während die Kommission die Klagebefugnis wegen fehlender Rückforderung und damit fehlender individueller Betroffenheit in Abrede stellte, betrachtete das Gericht die Klage als zulässig. Die Kommission begründete ihre Ansicht mit dem Fehlen feststellender Steuerbescheide, somit einer Steuerschuld und damit auch einer Rückforderung. Das EuG begründete die Zulässigkeit damit, dass das Unternehmen zum konkret feststellbaren, individualisierbaren Kreis potentiell Steuerbegünstigter gehöre, die individuelle Betroffenheit sei nur eine Frage der Zeit.
Allerdings wurde die Klage als unbegründet abgewiesen. Die selektive Begünstigung von Unternehmen in Schwierigkeiten, für die die Rück-Ausnahme des Abs. 1a gilt, führe zu faktisch unterschiedlicher Behandlung der Wirtschaftsteilnehmer durch das Steuersystem. Die Unterstützung solcher Unternehmen sei auch gerade das Ziel der Sanierungsklausel. Dementsprechend sei der gewährte Vorteil nicht allen Wirtschaftsteilnehmern zu gleichen Voraussetzungen zugänglich. Dass gesunde Unternehmen Verlustvorträge bei Eigentümerwechsel nicht mehr nutzen können, sanierungsbedürftige unter denselben Umständen aber schon, sei nicht mit dem Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit zu vereinbaren, und es sei auch nicht nachzuvollziehen, warum dann und nur dann keine Missbrauchsgefahr bestehe, deren Abwendung das allgemeine Motiv für die Einschränkung der Verlustvorträge war (Bekämpfung von missbräuchlichen Mantelkäufen).
Dieselbe Begründung erging in einem zweiten, parallelen Fall (T-620/11). Hier hatte ein Finanzinvestor 2009 zunächst 80% einer sanierungsbedürftigen Finanzdienstleistungsgesellschaft erworben und dann eine Kapitalerhöhung i.H.v. 50 Mio. Euro durchgeführt. Das Finanzamt hob eine zuvor erteilte verbindliche Auskunft auf und erließ einen Körperschaftssteuerbescheid, der keine Verlustverrechnung vorsah. Hiergegen erhob das Unternehmen Klage. Die Kommission rügte die Klagebefugnis mit dem Hinweis darauf, dass die Klägerin weder Adressatin des angefochtenen Beschlusses sei noch Vertrauensschutz auf einen Steuervorteil durch die verbindliche Auskunft bestehe. Dem folgte das EuG mit derselben Begründung wie im ersten Falle nicht. Hinsichtlich der Begründetheit führte das EuG zur Gesetzessystematik dasselbe aus wie in der anderen Sache. Zusätzlich wurde vorgetragen, dass erstens keine Finanzierung aus staatlichen Mitteln erfolge und zweitens ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vorliege. Dem entgegnete das Gericht, dass im Verzicht auf Steuermehreinnahmen eine staatliche Beihilfe liege. Vertrauensschutz könne wenn überhaupt nur im Verhältnis zu den staatlichen Behörden entstehen. Deren unionsrechtswidriges Verhalten könne nicht zu einer unionsrechtswidrigen Bevorteilung durch die EU führen. Vielmehr bleibe nur die Anfechtung staatlicher Rückforderungsmaßnahmen.
Die Sanierungsklausel ist nach Auffassung des Gerichts der Europäischen Union demnach unionsrechtswidrig, nicht anwendbar und aufzuheben. Gewährte Beihilfen sind zurückzufordern.

C. Kontext der Entscheidung

Dem hier besprochenen Urteil geht voraus, dass 2008 das Unternehmensteuerreformgesetz den alten § 8 Abs. 4 KStG ersetzt hat und keine Ausnahmen für das Nichtanwendungsgebot des § 8c KStG vorsah, nach dem Verlustvorträge bei sog. schädlichen Anteilserwerb nicht abzugsfähig sind. Erst das Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung vom 16.07.2009 führte die sogenannte und jetzt umstrittene Sanierungsklausel in § 8 Abs. 1a KStG ein, die mit dem Wirtschaftswachstumsbeschleunigungsgesetz vom 22.12.2009 entfristet und zudem um die „Konzernklausel“ und die „Stille-Reserve-Klausel“ ergänzt wurde. Die EU-Kommission führte ein förmliches Prüfverfahren durch und stellte mit Beschluss fest, dass es sich bei der Sanierungsklausel um eine staatliche Beihilfegewährung handele, die nicht mit dem Europäischen Binnenmarkt vereinbar sei, Art. 107 Abs. 1 AEUV. Alle in diesem Zusammenhang gewährten Vergünstigungen sollten rückgefordert werden. Nachdem frühere Maßnahmen der Finanzbehörden nach dem alten o.g. § 8 Abs. 4 KStG nicht als Beihilfen angemeldet worden waren, behält sich die Kommission zudem auch deren Überprüfung nach EU-Beihilferecht vor.
Die Kläger haben Rechtsmittel beim EuGH eingelegt (C-203/16 P, C-208/16 P, C-209/16 P).

D. Auswirkungen für die Praxis

Die vorliegende EuG-Entscheidung hat unmittelbare Auswirkungen auf alle anhängigen Entscheidungen zur Anwendung der Sanierungsklausel und für alle weiteren Sanierungsfälle. Der Praktiker bleibt bis zur endgültigen Entscheidung über die Rechtsmittel in der Zwickmühle. Die von den Beratern entwickelten Sanierungskonzepte müssen alle scheinbar vorhandenen Freiräume des deutschen Steuerrechts zu nutzen versuchen, um die Restrukturierung zu optimieren. Das heißt, sie müssen auch Maßnahmen unter Anwendung der Sanierungsklausel berücksichtigen, wenn dies eine günstigere Sanierungsmöglichkeit eröffnet. Die Unsicherheit über den Ausgang des Rechtsstreits schränkt zugleich ihre Umsetzbarkeit ein. Gegebenenfalls werden Sanierungsmaßnahmen aufgeschoben.
Einmal mehr ist deutlich geworden, dass der Ansatz des deutschen Gesetzgebers, durch einzelfallbezogene Klauseln Erleichterung gewähren zu wollen, nicht mit dem rigorosen Ansatz des Europäischen Gleichbehandlungsgrundsatzes vereinbar scheint. Der Gesetzgeber bleibt somit aufgerufen, generelle Steuererleichterungen für die Unternehmen zu schaffen und Abstand von seinen Versuchen zu nehmen, selektiv Sanierungsfälle begünstigen zu wollen. Es bedarf entweder mit europäischen Maßstäben übereinstimmender Normen oder der konsequenten Streichung kollidierender Regelungen. Zunächst anwendbar scheinende aber dann als europarechtswidrig eingestufte Normen hindern die praktische Durchführung von Sanierungsmaßnahmen, da bereits die Unsicherheit über ggf. drohende Rechtsverfahren und schlimmstenfalls von erheblichen Rückzahlungsverpflichtungen die ohnehin schwierigen Operationen übermäßig belasten. Vor dem Hintergrund historisch niedriger Insolvenzantragszahlen muss allerdings damit gerechnet werden, dass aktuell keinerlei Aktivitäten entwickelt werden. Der Berater tut gleichwohl gut daran, stets das Europäische Beihilferecht einzukalkulieren. Im konkreten Fall bleibt die Rechtsmittelentscheidung des EuGH abzuwarten.