Nachfolgend ein Beitrag vom 18.12.2017 von Wozniak, jurisPR-InsR 25/2017 Anm. 3

Leitsätze

1. Im Rahmen einer Überschuldungsbilanz darf eine bestrittene Forderung, die gerichtlich durchgesetzt werden muss, nach dem Gebot einer vorsichtigen Bewertung nicht aktiviert werden.
2. Unter den Begriff der „Zahlungen“ i.S.d. § 64 Satz 1 GmbHG fällt grundsätzlich auch die Zahlung der Umsatzsteuer; die bloße Aussicht auf eine mögliche Erstattung durch das Finanzamt stellt dabei keine privilegierte Gegenleistung nach § 64 Satz 2 GmbHG dar.

A. Problemstellung

Wie eine Vielzahl von obergerichtlichen Entscheidungen befasst sich auch die hier zu besprechende Entscheidung des OLG Hamburg mit einer weiteren Detailfrage im Zusammenhang mit der Haftung der Geschäftsführung nach § 64 Satz 1 GmbHG. Nachdem die Rechtsprechung zum Insolvenzanfechtungsrecht zusehends „ausfranst“ und kasuistisch, zum Teil nicht mehr planbar und berechenbar ist, gehen viele Verwalterkanzleien dazu über, Masse über Ansprüche nach § 64 Satz 1 GmbHG zu generieren. Die Rechtsprechung ist hierzu noch nicht in jedem Detail auskonturiert.
Das OLG Hamburg befasst sich mit der Frage, inwieweit bestrittene Forderungen, die gerichtlich durchgesetzt werden müssen, aktiviert werden dürfen, sowie mit der weiteren Frage, inwieweit die Zahlung von Umsatzsteuer, für die eine Aussicht auf Erstattung besteht, eine privilegierte Gegenleistung nach § 64 Satz 2 GmbHG darstellt. Beide Fragen verneint das Oberlandesgericht mit überzeugender Argumentation.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger ist durch Beschluss des AG Hamburg vom 18.09.2012 zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der P.-GmbH bestellt worden. Er nimmt den Beklagten auf die Erstattung von Zahlungen in Anspruch, die seitens der Schuldnerin nach dem Eintritt der von ihm behaupteten Überschuldung der Schuldnerin geleistet worden sind. Der Beklagte ist seit Gründung der über ein Stammkapital von 25.000 Euro verfügenden Schuldnerin deren alleiniger Geschäftsführer. Geschäftsgegenstand der Schuldnerin, deren alleinige Gesellschafterin die Ehefrau des Beklagten ist, war die Erbringung von Dienstleistungen für Callcenter.
Der am 18.01.2012 aufgestellte Jahresabschluss zum 31.12.2010 weist ein handelsbilanzielles Eigenkapital in Höhe von noch 23.498,34 Euro aus. Ausweislich dieser Bilanz und der dazu gehörigen Gewinn- und Verlustrechnung erwirtschaftete die Schuldnerin im Jahr 2010 einen Jahresfehlbetrag i.H.v. 20.910,96 Euro. Ausweislich der am 04.01.2012 erstellten betriebswirtschaftlichen Auswertung für Dezember 2011 erwirtschaftete die Schuldnerin in dem Geschäftsjahr 2011 einen weiteren Fehlbetrag i.H.v. 118.043,88 Euro. Im Zeitraum vom 02.01. bis zum 30.06.2012 leistete die Schuldnerin von dem von ihr durchgehend im Guthaben geführten Geschäftskonto bei der Commerzbank AG insgesamt Zahlungen i.H.v. 239.278,20 Euro, wobei diese Zahlungen in einem Umfang von 35.091,04 Euro auf Steuerverbindlichkeiten der Schuldnerin und die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung entfielen. Seit Februar 2012 verzichteten der Beklagte und seine bei der Schuldnerin beschäftigte Ehefrau auf die laufenden Gehaltszahlungen in monatlicher Höhe von zusammen 5.000 Euro. Am 10.07.2012 stellte der Beklagte für die Schuldnerin einen Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, den er mit der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit begründete.
In einem Rechtsstreit der Schuldnerin gegen die V. erging zugunsten der Schuldnerin am 13.08.2012 eine Verurteilung der Gegenseite zur Zahlung eines Betrages i.H.v. 20.706 Euro. Nach Aufnahme des Verfahrens im eröffneten Insolvenzverfahren wurde allerdings der Betrag nicht mehr zugesprochen.
Mit Schreiben vom 09.02.2015 forderte der Kläger den Beklagten im Hinblick auf die bereits zum Jahresende 2011 eingetretene Überschuldung der Schuldnerin im Umfang von 204.187,16 Euro zur Erstattung der geleisteten Zahlungen auf. Der Kläger hat am 16.12.2015 gegen den Beklagten Klage erhoben. Er trägt vor, die Schuldnerin sei spätestens seit dem 31.12.2011 insolvenzrechtlich überschuldet gewesen. Auch der Jahresabschluss der Gesellschaft sei insofern zu korrigieren, als die immateriellen Vermögenswerte i.H.v. 50.983,78 Euro nicht angesetzt werden könnten. Es handele sich hierbei um ein E-Learning-Programm zur Weiterbildung von Callcenter-Mitarbeitern. Dieses Programm sei in einer fremden EDV-Struktur nicht nutzbar und im Rahmen einer außergerichtlichen Liquidation deshalb nicht verwertbar. Auch im Rahmen des Insolvenzverfahrens habe hierfür kein Interessent gefunden werden können. Ferner waren stille Reserven nicht vorhanden, einzelne weitergehende Vermögensgegenstände des Umlaufvermögens waren ebenfalls zu korrigieren. Davon ausgehend errechnet der Insolvenzverwalter eine Überschuldung ab dem 01.01.2012 und eine daraus folgende Klageforderung i.H.v. 204.187,16 Euro.
Der Beklagte beantragt Klageabweisung. Die Einwendungen des Beklagten beschränken sich darauf, dass er bei der Überschuldungsprüfung nicht von Liquidations-, sondern von Fortführungswerten hätte ausgehen dürfen. Außerdem sei das E-Learning-Programm deutlich höher zu bewerten, so dass der Zeitpunkt der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit nach hinten zu verlagern sei und sich die klägerische Forderung insofern reduziere.
Erstinstanzlich wurde der Beklagte zur Zahlung verurteilt. Hiergegen wandte sich der Beklagte durch die Berufung, in der er nochmals ausführt, dass sich aus der für die Überschuldungsprüfung maßgeblichen Handelsbilanz per 31.12.2011 keine Überschuldung der Schuldnerin ergebe. Eine Insolvenzbilanz sei nur bei Insolvenzreife aufzustellen. Außerdem sei der Kläger für Überschuldung der Schuldnerin beweis- und substantiierungspflichtig und habe insoweit nicht substantiiert genug vorgetragen. Es fehlten Darlegungen zu den Verwertungsbemühungen des Klägers. Ferner seien die Ausführungen des Landgerichts zur Insolvenzbilanz falsch.
Das OLG Hamburg hat das landgerichtliche Urteil aufrechterhalten und die Berufung als unbegründet zurückgewiesen. Die Klageforderung stehe dem Kläger gemäß § 64 Satz 1 GmbHG zu, weil die Schuldnerin bei Vornahme der streitgegenständlichen Zahlungen überschuldet gewesen sei und diese Zahlungen auch nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar gewesen seien. Gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO liege Überschuldung vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr decke, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens sei nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Eine positive Fortführungsprognose, für die im Anwendungsbereich des § 64 Satz 1 GmbHG der Geschäftsführer darlegungs- und beweispflichtig sei, setze grundsätzlich voraus, dass der Geschäftsführer davon ausgehen dürfe, dass das Unternehmen trotz der wirtschaftlichen Krise nach dem Willen der Gesellschafter fortgeführt werden solle und dass die Gesellschaft ihre Verbindlichkeiten jedenfalls in der nächsten Zeit, im Allgemeinen mindestens bis zum Ende des laufenden und des folgenden Geschäftsjahres, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit werde erfüllen können. Gemessen hieran lägen ausreichende Darlegungen des Beklagten nicht vor. Nach dem eigenen Vorbringen des Beklagten sei im Jahr 2011 ein Fehlbetrag in Höhe von mindestens 17.410,36 Euro erwirtschaftet worden.
Soweit die Beklagtenseite einwendet, in der Handelsbilanz der Schuldnerin seien Forderungen gegenüber der V im Nennwert von 41.126,40 Euro zu aktivieren gewesen, folgt dem das Oberlandesgericht ebenfalls nicht. Hiergegen spreche das Gebot der vorsichtigen Bewertung streitiger Forderungen im Rahmen der Überschuldungsprüfung. Nach der Rechtsprechung des BGH setze die Aktivierung einer Forderung in einer Überschuldungsbilanz voraus, dass die Forderung einen realisierbaren Vermögenswert darstelle und durchsetzbar sei. Das Gebot einer vorsichtigen Bewertung streitiger Forderungen im Rahmen der Überschuldungsprüfung werde auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten, und decke sich im Übrigen auch mit der Rechtsprechung des BGH, wonach eine Bilanzierung auch handelsbilanziell dann und insoweit zulässig sei, als der Anspruch nicht ernstlich zweifelhaft sei. Für die im Rahmen der Prüfung einer insolvenzrechtlichen Überschuldung entsprechende Anwendung des Grundsatzes vorsichtiger Bewertung spreche namentlich, dass es im Rahmen der Überschuldungsprüfung gemäß § 19 InsO erst recht um eine realistische Beurteilung der Lebensfähigkeit der Gesellschaft und insofern in erster Linie um den Gläubiger-Verkehrsschutz gehe. Im Hinblick hierauf müsse eine Überbewertung von Vermögensgegenständen vermieden werden, die eine unzutreffende Verneinung der Insolvenzreife zur Folge hätte. Ziel der insolvenzrechtlichen Überschuldungsprüfung sei vielmehr eine möglichst realistische Einschätzung des Unternehmenswertes, was insofern im Rahmen des § 19 InsO dazu führe, dass im Falle einer streitigen Forderung auch die reale Möglichkeit eines vollständigen Forderungsausfalls zu berücksichtigen sei. Für eine im Sinne eines prozentualen Abschlags vorzunehmende Wertberichtigung einer bereits dem Grunde nach streitigen Forderung fehle jede praktikable Grundlage, vielmehr könne durch eine derartige Berichtigung allenfalls die zweifelhafte wirtschaftliche Durchsetzbarkeit der Forderung abgebildet werden. Schließlich könne es unter der Zielsetzung des Verkehrsschutzes auch nicht allein der eigenen Einschätzung des Geschäftsführers überlassen werden, eine der Sache nach gebotene Wertberichtigung zu quantifizieren und hierdurch quasi über die Insolvenzreife der Gesellschaft zu disponieren. Aus diesem Grund komme eine Aktivierung der gegen die V geltend gemachten Forderung bereits grundsätzlich nicht in Betracht, selbst nicht in Teilen. Die Forderung sei in vollem Umfang bestritten und Gegenstand eines laufenden Rechtsstreits, der durch rechtskräftiges Berufungsurteil zulasten der Schuldnerin entschieden wurde. Es bestehe daher eine Erstattungspflicht dem Grunde nach. Ausgenommen von dieser Erstattungspflicht seien nach § 64 Satz 2 GmbHG nur solche Zahlungen, die auch nach Eintritt der Insolvenzreife mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar seien. Privilegiert würden hierdurch, zusätzlich zu Zahlungen auf strafbewehrte Zahlungsverpflichtungen des Geschäftsführers, insbesondere Zahlungen im Austausch für eine vollwertige und zeitnahe Gegenleistung. Ferner könnten Zahlungen privilegiert sein, durch die aus ex-ante-Sicht im Einzelfall größere Nachteile für die Masse abgewendet würden.
Der Ausnahmetatbestand des § 64 Satz 1 GmbHG sei streng auszulegen, um den Schutz von Masseschmälerungen nicht auszuhöhlen. Entscheidend sei, ob die Zahlung im wohlverstandenen Interesse der Gläubigergemeinschaft erfolgt sei. Dies habe der Beklagte im hier streitgegenständlichen Fall weder dargelegt noch unter Beweis gestellt. Insbesondere sei der Vortrag, dass die streitgegenständlichen Zahlungen insoweit kaufmännisch vertretbar gewesen seien, als die darin enthaltene Umsatzsteuer i.H.v. 19% betroffen sei, die vom Finanzamt verrechnet bzw. erstattet worden sei. Es reiche gerade nicht aus, dass die Umsatzsteuer zu irgendeinem späteren Zeitpunkt erstattet oder verrechnet werde. Die bloße Aussicht auf eine mögliche Umsatzsteuererstattung sei nicht per se eine nach § 64 Satz 2 GmbHG privilegierte Gegenleistung.

C. Kontext der Entscheidung

Das OLG Hamburg setzt sich in gewohnt prägnanter Manier mit der Frage des Haftungsumfangs nach § 64 Satz 1 GmbHG sowie den Privilegierungstatbeständen nach Satz 2 auseinander und gelangt im vorliegenden Fall zu einem überzeugenden Ergebnis. Einerseits legt das Gericht nochmals ausdrücklich klar, wie mit streitigen Forderungen umzugehen ist. Anders als die übrigen Obergerichte zum Teil annehmen, könne auch keine anteilige Berücksichtigung von streitigen Forderungen (etwa mit dem halben Nennwert oder dergleichen) erfolgen, sofern die Forderung ihrem Grunde nach insgesamt streitig sei. Eine prozentuale Abbildung komme allenfalls dann in Betracht, wenn entweder nur Teile der Forderung bestritten seien, da dann die Forderungsquote auch feststehe bzw. dann, wenn die Einbringlichkeit der Forderung bei dem jeweiligen Gläubiger streitig sei. Das Gericht weist dabei jedoch auch zu Recht darauf hin, dass eine derartige Auslegung mit erheblichen Risiken für die Beurteilung des Eintritts der Insolvenzreife verbunden seien und dem Geschäftsführer insofern ein Dispositionswerkzeug zur Gestaltung des vermeintlichen Eintritts der Insolvenzreife (und damit auch seiner eigenen Haftungsinanspruchnahme) an die Hand gebe. Schon aus diesem Grunde sei mit größter Zurückhaltung und Restriktionen vorzugehen, soweit eine Berücksichtigung überhaupt in Betracht komme.
Gleiches gelte auch für die Frage, inwieweit eine Umsatzsteuerzahlung aus den haftungsbegründenden Umständen und Zahlungen herauszurechnen sei. Auch hier weist das Gericht zu Recht darauf hin, dass die Erstattung bereits dem Grunde nach streitig ist, weil etwa Verrechnungen oder nicht erfolgte Zahlungen denkbar sind. Infolgedessen müsse eine gezahlte Umsatzsteuer auch dem Haftungsumfang noch vom Geschäftsführer mit vertreten werden. Die Entscheidung verdient inhaltlich volle Zustimmung.

D. Auswirkungen für die Praxis

Für den Haftungsansprüche verfolgenden Insolvenzverwalter bringt die Entscheidung erfreuliche Klarheit in Detailfragen zum Umfang der Haftungsinanspruchnahme nach § 64 Satz 1 GmbHG. Bei der Beratung eines Geschäftsführers in insolvenznahen Zusammenhängen muss die Entscheidung ebenfalls berücksichtigt werden. Hierbei sind insbesondere die Ausführungen des Oberlandesgerichts zur Beweislastverteilung von erheblichem praktischen Interesse, so dass man – folgt man dem OLG Hamburg – sich als Geschäftsführer bzw. als sein Anwalt regelmäßig nicht auf die Darlegungs- bzw. Beweislast des Insolvenzverwalters und seine Beweisfälligkeit in streitigen Fallgestaltungen berufen kann.

Keine Aktivierung einer bestrittenen Forderung in der Überschuldungsbilanz
Thomas HansenRechtsanwalt
  • Fachanwalt für Steuerrecht
  • Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht

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