Nachfolgend ein Beitrag vom 25.5.2016 von Landry, jurisPR-HaGesR 5/2016 Anm. 5

Orientierungssatz zur Anmerkung

Hat das Insolvenzgericht im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren nach § 270a InsO keine Verfügungsbeschränkungen angeordnet, sind von dem Schuldner begründete Steuerverbindlichkeiten in analoger Anwendung von § 55 Abs. 4 InsO als Masseverbindlichkeiten zu qualifizieren. Zahlt der Schuldner die Steuerverbindlichkeiten, sind diese einer Insolvenzanfechtung entzogen.

A. Problemstellung

Das LG Erfurt musste sich in seiner Entscheidung mit der Frage der insolvenzrechtlichen Qualifizierung von Steuerverbindlichkeiten im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren auseinandersetzen. Hierbei geht es auf der ersten Stufe darum, ob von dem Schuldner im Rahmen der Betriebsfortführung begründete Steuerverbindlichkeiten auch ohne eine ausdrückliche Ermächtigung des Insolvenzgerichts nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens Masseverbindlichkeiten oder Insolvenzforderungen darstellen. Auf der nächsten Stufe führt dies zu der Frage, ob während des vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens geleistete Steuerzahlungen später der Insolvenzanfechtung unterliegen. Dies wäre nur der Fall, wenn es sich um Insolvenzforderungen handelt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Parteien streiten zur Anfechtbarkeit von erfüllten Steuerverpflichtungen. Auf Antrag der Schuldnerin hat das Insolvenzgericht zunächst am 21.01.2014 die vorläufige Eigenverwaltung über das Vermögen der Schuldnerin nach § 270a InsO angeordnet. Zum vorläufigen Sachwalter wurde der Kläger bestellt. Mit weiterem Beschluss des Insolvenzgerichts vom 01.04.2014 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und die Eigenverwaltung gemäß § 270 InsO angeordnet. Zum Sachwalter wurde gemäß § 270c InsO der Kläger bestellt. Der Beschluss zur vorläufigen Sachwaltung wurde dem Beklagten mit Schreiben vom 24.01.2014 bekannt gegeben. Im Zeitraum zwischen beiden Beschlüssen, nämlich vom 07.03.2014 bis zum 26.03.2014 erfolgten von der Schuldnerin vier Zahlungen auf Umsatzsteuer für Januar und Februar 2014 sowie Lohnsteuer für März 2014 an das zuständige Finanzamt in der streitgegenständliche Höhe von insgesamt 86.384,84 Euro. Der Kläger hat in der Folge mit Schreiben vom 14.04.2014 die geleisteten Zahlungen von dem beklagten Finanzamt zurückgefordert. Er ist der Auffassung, es handele sich um anfechtbare Zahlungen gemäß den §§ 129 ff. InsO. Er mache insoweit von seinem Kassenführungsrecht gemäß § 275 Abs. 2 InsO Gebrauch. Der Beklagte könne sich nicht auf den Einwand stützen, es handele sich um Masseverbindlichkeiten. Der Beklagte vertritt die Auffassung, die erfolgten Zahlungen der Schuldnerin seien Masseverbindlichkeiten i.S.d. § 55 Abs. 4 InsO. Diese könnten auch im Rahmen der Eigenverwaltung durch die Schuldnerin selbst begründet werden, denn es handele sich um normale Geschäfte im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren. Der Beklagte sei deshalb nicht verpflichtet, diese erhaltenen Beträge zur Masse zurückzuführen.
Das LG Erfurt hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Schuldnerin habe bei den streitgegenständlichen Zahlungen im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren Masseverbindlichkeiten i.S.d. § 55 Abs. 4 InsO begründen dürfen. Zunächst ergebe sich aus § 280 InsO, dass auch im Verfahren der Eigenverwaltung eine Insolvenzanfechtung gemäß den §§ 129 ff. InsO von Seiten des Sachverwalters möglich sei. Deshalb können grundsätzlich Rechtshandlungen, die während des Eröffnungsverfahrens vom vorläufig eigenverwaltend handelnden Schuldner vorgenommen werden, nicht von einer Anfechtungsmöglichkeit ausgeschlossen sein, denn auch im vergleichbaren Zeitraum des Tätigseins des vorläufigen Insolvenzverwalters in Regelinsolvenzverfahren wären solche Rechtshandlungen bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 129 ff. InsO anfechtbar.
Anders sei die Situation jedoch im Falle der vorläufigen Eigenverwaltung zu bewerten, wenn dem Schuldner keine Verfügungsbeschränkungen durch das Insolvenzgericht auferlegt wurden. Dann könne und solle der Schuldner Steuern abführen. Der Beschluss des Insolvenzgerichts vom 21.01.2014 habe der Schuldnerin im Eröffnungsverfahren keine Verfügungsverbote auferlegt und habe keine Zustimmungsvorbehalte für den vorläufigen Sachwalter angeordnet. Auf diesen Sachverhalt sei die Vorschrift des § 55 Abs. 4 InsO entsprechend anzuwenden. Auch wenn von dessen Wortlaut nur Steuerverbindlichkeiten des Schuldners erfasst sind, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter selbst oder mit dessen Zustimmung von Schuldner begründet wurden, müsse diese Regelung auf das Handeln des unbeschränkt tätigen Schuldners im Eröffnungsverfahren der Eigenverwaltung übertragen werden. Die streitgegenständlichen Steuerverbindlichkeiten der Schuldnerin seien daher nach Verfahrenseröffnung zu Masseverbindlichkeiten geworden und damit der Anfechtung entzogen. Die Begründung von Masseverbindlichkeiten müsse im Eröffnungszeitraum eines Insolvenzverfahrens möglich sein – unabhängig davon, ob es sich um ein „normales“ Verfahren mit einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder um ein solches mit Eigenverwaltung durch den Schuldner unter Beiordnung eines vorläufigen Sachwalters handelt, denn die Zielrichtung sei die gleiche. Mit der Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung nach § 270a InsO und dem Verweis auf die §§ 274, 275 InsO habe die eigenverwaltende Schuldnerin wie ein vorläufiger Insolvenzverwalter die Stellung einer Partei kraft Amtes erlangt mit der Folge, dass sie Masseverbindlichkeiten begründen konnte.
Schließlich bestehe aus Sicht des Gläubigers (Fiskus) insoweit die Sicherheit, dass Zahlungen auf Steuerschulden in der Phase des Eröffnungsverfahrens – egal wer sie für die Schuldnerin leistet – nicht der späteren Anfechtung unterliegen. Eine unterschiedliche Einordnung solcher Verbindlichkeiten in der vorläufigen Eigenverwaltung und bei Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters wäre angesichts der Stellung des Fiskus als Gläubiger unter mehreren anderen Gläubigern nach dem Zweck des § 55 Abs. 4 InsO nicht sachgerecht.

C. Kontext der Entscheidung

Das LG Erfurt setzt sich mit seiner Entscheidung bewusst und ausdrücklich in Widerspruch zu der – soweit ersichtlich – überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung, nach der die angeordnete Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den Schuldner in Schutzschirmverfahren nach § 270b Abs. 3 InsO auf vorläufige Eigenverwaltungsverfahren nach § 270a InsO nicht ohne weiteres übertragen werden kann (vgl. Kern in: MünchKomm InsO, 3. Aufl. 2014, § 270a Rn. 42). Auch wenn Details umstritten sind und eine höchstrichterliche Klärung aussteht, entspricht es inzwischen gefestigter Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, dass sowohl im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren als auch im Schutzschirmverfahren der Schuldner nur Masseverbindlichkeiten begründen kann, wenn und soweit er vom Insolvenzgericht hierzu ermächtigt worden ist (vgl. etwa OLG Dresden, Urt. v. 18.06.2014 – 13 U 106/14 – NZI 2014, 703; Landry in: Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, 9. Aufl. 2015, § 15 R. 40 f.). Die Auffassung, dass ein Schuldner im Eröffnungsverfahren nach § 270a InsO generell Masseverbindlichkeiten begründen könne, ohne vom Insolvenzgericht besonders hierzu ermächtigt werden zu müssen (vgl. AG Montabaur, Beschl. v. 27.12.2012 – 14 IN 282/12 – NZI 2013, 350, 351), hat keine Anhänger gefunden.
Soweit das LG Erfurt sein Ergebnis über eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 55 Abs. 4 InsO auf den eigenverwaltenden Schuldner rechtfertigt, geht dies fehl. § 55 Abs. 4 InsO erfasst ausdrücklich nur die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder von dem Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters begründeten Steuerverbindlichkeiten und qualifiziert diese nach Verfahrenseröffnung zu Masseverbindlichkeiten. Das LG Erfurt verkennt, dass bereits die für eine Analogie erforderliche planwidrige Regelungslücke fehlt: Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf des ESUG eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 55 Abs. 4 InsO auf Steuerverbindlichkeiten, die von einem vorläufigen Sachwalter, vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Sachwalters oder vom Schuldner während eines Eröffnungsverfahrens nach § 270a Abs. 1 InsO begründet worden sind, vorgeschlagen (BR-Drs. 127/11 (B), S. 5). Diesem Vorschlag ist die Bundesregierung jedoch nicht gefolgt und hat der Einbeziehung von durch den Schuldner begründeten Steuerverbindlichkeiten in den Anwendungsbereich des § 55 Abs. 4 InsO explizit eine Absage erteilt: Der Vorschlag würde Fälle erfassen, in denen der Schuldner völlig autonom handelt und der Sachwalter keinerlei Einfluss auf die vom Schuldner getätigten Geschäfte ausübt. Bereits nach geltendem Recht erschöpft sich die Funktion des Sachwalters überwiegend darin, die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu prüfen und seine Geschäftsführung zu überwachen (BT-Drs. 17/5712, S. 68). Diese Funktion des Sachwalters rechtfertigt es nicht, den Anwendungsbereich des § 55 Abs. 4 InsO über den Wortlaut hinaus auszudehnen. Die Vorschrift ist daher weder direkt noch analog auf das vorläufige Eigenverwaltungsverfahren anzuwenden (vgl. Jarchow/Denkhaus in: Hamburger Komm. InsO, 5. Aufl. 2015, § 55 Rn. 82).

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung des LG Erfurt kann für die Praxis zu unerfreulichen Rechtsunsicherheiten führen, wenn sich die hierin vertretene Auffassung durchsetzen sollte. Dies trifft insbesondere den Geschäftsführer des eigenverwaltenden Schuldners: Zahlt er auf die Steuerverbindlichkeiten, weil er davon ausgeht, dies seien Masseverbindlichkeiten, setzt er sich der Gefahr einer Strafbarkeit wegen Gläubigerbegünstigung nach § 283c StGB aus. Leistet er hingegen keine Zahlung, weil er der Auffassung ist, es handele sich um Insolvenzforderungen, setzt er sich dem Risiko einer Haftungsinanspruchnahme nach den §§ 69, 34 AO aus. Egal, wie er sich entscheidet, begibt er sich in die Gefahr einer zivil- und/oder strafrechtlichen Haftung. Im Interesse der Schaffung von Rechtssicherheit wäre eine abschließende Klärung der Problematik dringend zu begrüßen. Ob diese durch ein Eingreifen des Gesetzgebers oder durch die Rechtsprechung erfolgt, ist dabei unerheblich. Die Beibehaltung des jetzigen Zustands beeinträchtigt jedoch die Funktion der Eigenverwaltung als taugliche Verfahrensart.